Deutsch-Französisches Institut
Arbeitsgemeinschaft, Elternvereinigung und Förderverein der Gymnasien mit zweisprachig deutsch-französischem Zug in Deutschland (LIBINGUA)

Im Zeitalter der Nachhaltigkeit

Die Nachhaltigkeit kam spät, aber sie kam gewaltig. Als die Grünen 1983 in den Deutschen Bundestag einzogen, konnte man noch problemlos über Umweltfragen reden, ohne das Wort in den Mund zu nehmen. Im Register der edierten Fraktionsprotokolle der Grünen von 1983 bis 1987 kommt „Nachhaltigkeit“ nicht vor. Ein Jahrzehnt später war „Nachhaltigkeit“ ein terminologisches Passepartout, kanonisiert durch den legendären Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992. Was war passiert?

Die 1970er und 1980er Jahre waren eine Zeit des ökologischen Aufbruchs. Überall entstanden neue Institutionen und Gremien, Gesetze wurden geschaffen oder grundlegend überarbeitet, neue Verbände und Parteien etablierten sich. Über Ausmaß und Ursachen des Umbruchs werden Umwelthistoriker noch einige Zeit streiten, aber als zentrales Merkmal lässt sich schon jetzt die Verbindung vormals getrennter Problemstellungen zu dem „Umweltproblem“ benennen. Für die Vernetzung der diversen Themen brauchte man jedoch zunächst nicht das Wort „Nachhaltigkeit“. Man hielt sich vielmehr an „Ökologie“ und die Farbe grün.

Der Aufstieg der Nachhaltigkeit verband sich aufs Engste mit internationalen Gremien und deren Berichten: der World Conservation Strategy der International Union for the Conservation of Nature, der von Willy Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission der Weltbank sowie vor allem der Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen, die 1987 in ihrem Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ eine vielzitierte Definition der nachhaltigen Entwicklung vorlegte. Nachhaltig war demnach eine „Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generationen entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“. In seiner Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit spricht Ulrich Grober von einem Dornröschen-Moment: Ein lange schlummernder Begriff sei von Brundtland wachgeküsst worden. Solche Metaphern sind bekanntlich Geschmackssache, aber der rasche Aufstieg des Begriffs hatte schon etwas Märchenhaftes.

Hinter dem Erfolg der Brundtland-Kommission steckte gewiss das Glück der Chronologie. 1987 war genau das richtige Jahr für einen dramatischen Umweltappell. Im Jahr zuvor hatten der Super-GAU von Tschernobyl und der Chemieunfall von Sandoz die Gefahren der Großtechnik dokumentiert. Mit dem Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht schien sich ein neues Zeitalter einer globalen Umweltpolitik anzubahnen. Der anthropogene Klimawandel wurde erstmals zum Gegenstand breiter Debatten. Auch die Dissidenten im Ostblock interessierten sich für Umweltprobleme. Eine Hochzeit grüner Debatten begann, die dann 1992 im Rio-Gipfel kulminierte. Und doch ging es um mehr als nur die Ausnutzung einer zeitlich günstigen Gelegenheit.

Auch hier hilft die Frage nach dem Gegenbegriff weiter. Das terminologische Gegenstück zur „Nachhaltigkeit“ war nichts weniger als der Untergang der menschlichen Zivilisation. „Das Überleben sichern“, lautete der düstere Titel des Berichts der Brandt’schen Nord-Süd-Kommission. Es drohte das moderne Äquivalent zur Holznot um 1800, der totale Kollaps, global und unwiederbringlich, und in der Zeit des Kalten Krieges, als jederzeit der „nukleare Holocaust“ eintreten konnte, hatte das eine unmittelbare Plausibilität. Der amerikanische Umwelthistoriker Jacob Hamblin hat kürzlich darauf hingewiesen, dass sich die Rhetorik der Umweltkrise und der Horrorvisionen des Kalten Krieges auffallend ähnelten.

Frank Uekötter: Ein Haus auf schwankendem Boden: Überlegungen zur Begriffsgeschichte der Nachhaltigkeit. - In: APuZ 32-32/2014, S. 13-14. (http://www.bpb.de/apuz/188661/ein-haus-auf-schwankendem-boden-begriffsgeschichte?p=all, 08.10.2015)

Vokabular

das Zeitalterdie Epoche, die Ära
der Erdgipfelle Sommet de la Terre [des Nations unies sur l’Environnement et le Développement]
das Gremiumzur Erfüllung einer bestimmten Aufgabe gebildete Gruppe von Experten
der Verbandl’association
der Umbrucheine grundlegende Veränderung
die Vernetzungdie Verbindung (untereinander)
die Bedürfnisse (n.)les besoins
das Dornröschenla Belle au bois dormant
schlummernschlafen
sich anbahnen(langsam) entstehen, beginnen
anthropogendurch den Menschen verursacht
kulminierengipfeln, seinen/ihren Höhepunkt finden
der Untergangdas Zugrundegehen, das Ende

Mögliche Arbeitsaufträge:

  1. Erläutern Sie, warum der Begriff „Nachhaltigkeit“ Ende der 1980er Jahre den vom Autor beschriebenen „Aufstieg“ erlebte.